Die Ausgestoßenen bekommen wieder Gesicht und Identität
Denkmalanlage, Archiv und Patenschaften für vertriebene jüdische Mitschülerinnen: Friedenspreis für die Bettinaschule
Zum zweiten Mal hatte das Frankfurter Schuldezernat den mit 5000 Mark dotierten Friedenspreis der Frankfurter Schulen
ausgeschrieben. Gewürdigt werden sollte diesmal ein Projekt, "das Mut macht, gegen Ausgrenzung, Rassismus und
Rechtsradikalismus aufzustehen", so formulierte es Schuldezernentin Jutta Ebeling (Grüne).
Zwei entscheidende Kriterien der Jury richteten sich nach "Kreativität" und "Nachhaltigkeit" –
bietet das Projekt neue Ansätze, und wie ist es mit der Schulgemeinde verwurzelt? Die Wahl fiel auf das
Projekt "Gedenkstätte und Archiv für die ehemaligen jüdischen Schülerinnen der Viktoriaschule", das Schüler
des Bettina-Gymnasiums im Frankfurter Westend ins Leben riefen.
Von Tanja Kokoska
Der erste Gedanke liegt nahe. Er gilt "Schindlers Liste". Die ersten Bilder, die bei der Betrachtung dieser fünf eng
beschriebenen DIN A4-Seiten Gestalt annehmen, zeigen die Tasten einer Schreibmaschine, wie sie unaufhörlich
Namen zu Papier bringen, einen unter dem anderen: Katz, Wally", oder "Kupfer, Lotte". Die Typenhebel schlagen
im Rhythmus eines eisern entschlossenen Willens.
Diese Liste zählt 183 Namen, alphabetisch sortiert. Namen von 183 Frauen, dazu die ihrer Väter, deren Berufe,
Angaben zu Adressen, Geburtsdaten und –orten. 183 Lebensgeschichten. Und Betrachter, die diese Liste in den
Händen halten, meinen wie aus weiter Ferne die Stimme Itzhak Sterns ( im Kinofilm "Schindlers Liste" gespielt von
Ben Kingsley) zu hören, wie er Reihe für Reihe verliest: "Katz, Wally – Kupfer, Lotte – Löwenstern, Ruth – Pfefferkorn,
Lisa – Rosenstock, Anita – Salomon, Irm – Sichel, Helen". Und so fort.
Die Namen haben die Schüler des Bettina-Gymnasiums gesammelt und dafür "unzählige Wochenenden" und "viel,
viel Freizeit" geopfert. Die Namen gehören ehemaligen Schülerinnen des Mädchengymnasiums "Viktoriaschule",
so wie die Bettinaschule bis 1947 hieß. "Katz, Wally – Kupfer, Lotte – Löwenstern, Ruth", sie alle waren jüdischen
Glaubens und wurden nach 1933, nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, gezwungen, die Schule zu
verlassen. Heute will sie die Schülervertretung (SV) der Bettinaschule wieder in die Gemeinschaft zurückholen –
auf symbolische Weise.
Erste Funde machten die insgesamt 14 an dem Projekt beteiligten Schülerinnen und Schüler in alten, staubigen
Schulakten. Die darin verzeichneten Namen legten den Grundstein für ihre Liste – und damit für das Archiv. Doch
nur zum Teil konnten die weiteren Lebenswege der ehemaligen Schülerinnen rekonstruiert werden; manche von
ihnen wechselten auf die jüdische Schule – das Philanthropin -, andere gingen ins Exil. Und bei vielen, vielen Namen
steht hinter der Frage nach dem "Wohin" noch immer ein "?".
"Wir möchten natürlich möglichst von allen wissen, was aus ihnen geworden ist. Wir möchten allen Namen ein
Gesicht und eine Identität geben", wünscht sich Schulsprecherin Angela Stein. "Zu unserem großen Glück haben
wir auf Deportationslisten, wie sie von der Agentur "Zeitsprung" gesammelt werden, keinen Namen einer ehemaligen
Viktoriaschülerin entdeckt".
Verbindungslehrerin Hannelore Zacharias, die seit Jahren die schulische Auseinandersetzung mit dem
Nationalsozialismus, beispielsweise in Projektwochen, fördert, ist von dem "unglaublichen Engagement"
ihrer Schüler begeistert. Während eines SV-Wochenendes ergab sich die Zusammenarbeit mit dem Kunst-
Leistungskurs des Abitur-Jahrgangs 2000/2001, der im Rahmen einer Hausarbeit "insgesamt zwölf Entwürfe" zu
einer Denkmalanlage erstellte. Neben der Grundidee von der "Gemeinschaft mit den Ausgestoßenen" sollte eine
solche Gedenkstätte auch Platz für die 183 Namen bieten.
Aus einer Kombination mindestens zweier Entwürfe soll nun die Gedenkstätte auf dem Schulhofgelände entstehen.
"Das Frankfurter Schuldezernat und das Hochbauamt haben auf wunderbar rasche und unbürokratische Weise
dafür gesorgt, dass zu diesem Zweck ein rund 40 Quadratmeter großes Gelände in den Schulhof integriert werden konnte",
lobt Zacharias. Die Idee: Kreisförmig angeordnete Bänke bilden "einen Ort der Kommunikation", in dessen Mitte ein
Gingko-Baum gepflanzt ist – von der Frankfurter Sparkasse im Rahmen des Projekts "Schulhofverschönerung" gestiftet.
Eine der Bänke ist aus dem Kreis ausgeschlossen. "Der Kreis symbolisiert einerseits die Gemeinschaft, also die
Schulgemeinde, die abseits stehende Bank das Ausgestoßensein aus dieser Gemeinschaft", erklärt SV-Mitglied Helen
Könnecke. Ein weiteres Modell stellt eine ansteigende, zweigeteilte Mauer dar – eine Hälfte schwarz, die andere weiß.
"Das Ansteigen der Mauer symbolisiert das Leben, das Wachstum, also den Werdegang eines Menschen". Auf der dunklen
Mauer – "auf der Schattenseite des Lebens" – sollen kupferne Schilder die 183 Namen der ehemaligen Viktoriaschülerinnen tragen.
"Eventuell kommt noch der ‚Lebensweg’ hinzu, ein in sich geschlossener Kreis, der zu der Gedenkstätte hinführt und an
dessen Ende man wieder an Anfang des Weges steht", sagt Zacharias, dann wäre es eine Kombination aus insgesamt
drei Entwürfen, die der Phantasie des Kunst-Leistungskurs’ entstammen.
Bei ihren Nachforschungen und Planungen für Archiv und Gedenkstätte erfuhren die Schüler "große Unterstützung" vom
Frankfurter Fritz Bauer Institut (Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust), von
der jüdischen Gemeinde sowie dem jüdischen Museum, das ihnen einen Workshop angeboten hat, "in dem wir lernen
können, wie man richtig recherchiert und Kontakt zu großen Archiven bekommt". SV-Mitglied Robert Könnecke wäre
"begeistert, wenn wir zum Beispiel die Möglichkeit hätten, einmal in die USA zu Steven Spielbergs Shoa-Film-Archiv zu
reisen". So gut, wie die Finanzierung des Projekts derzeit läuft, könnte sich Roberts Wunsch vielleicht sogar erfüllen lassen.
Insgesamt "fast 40 000 Mark" kamen bei Sammlungen und Spendenaktionen zusammen.
Die Schüler selbst haben auf Schulfesten, Elternabenden und Veranstaltungen gesammelt, bei denen sie ihr Projekt vorstellten,
Kreditinstitute und Unternehmen des Stadtteils gaben finanzkräftige Unterstützung. "Ein großer Teil des Geldes stammt vom
Frankfurter Amtsgericht, das uns Erlöse aus Bußgeldverfahren zugesprochen hat", sagt Zacharias. "Natürlich wird das meiste
allein für die Errichtung der Gedenkstätte benötigt", aber "wenn was übrig bleibt", sagt Robert Könnecke, "dann könnten wir
davon zum Beispiel Flugtickets für ehemalige Schülerinnen kaufen und sie zu uns einladen".
Um langfristig Verbindungen zwischen heutigen Schülern und den ehemaligen Viktoriaschülerinnen zu schaffen, möchte die
SV Patenschaften ins Leben rufen. Alle Klassen und Kurse der Bettinaschule könnten dabei selbständig über deren
Biographien Nachforschungen anstellen und diese Einzelschicksale seit der Ausgrenzung "im offenen Archiv" dokumentieren.
"Die Arbeit am und im Archiv soll auch bedeuten, dass man sich informiert, lernt und miteinander spricht", erläutert Hannelore
Zacharias, die den Fortbestand des Archivs im Rahmen einer AG leiten wird.
Künstlerische Unterstützung gab es im Januar von Sigrid Sigurdsson, deren Projekt "Die Bibliothek der Alten" im Historischen
Museum verwirklicht wird. Gemeinsam mit der SV und interessierten Schülern der Bettina-Schule organisierte sie einen
Workshop, auf dem viele Ideen zur Gestaltung eines offenen Archivs weiterentwickelt wurden. "Die Arbeit mit Sigrid Sigurdsson
war eine ungeheuer wertvolle Bereicherung für uns", sagt Zacharias, die sich "ein kreatives, reizvolles Archiv und keine verstaubten
Aktenreihen" wünscht.
Weiterhin ist geplant, auf der Homepage der Bettinaschule ein Gästebuch mit Emailadressen sowie Kontakt mit anderen
Datenbanken, auch außerhalb Frankfurts, einzurichten. Auf selbst entworfenem Briefpapier und Tonbandkassetten werden
ehemalige Schülerinnen gebeten, Erinnerungen an ihre Schule festzuhalten, und ein Projektbuch soll Idee und Realisierung dokumentieren.
"Wir möchten wirklich allen ehemaligen Viktoriaschülerinnen zeigen, dass wir sie nicht vergessen haben, dass hier ein
Platz für sie ist, an dem ein Denkmal für sie steht". Und nach diesen Worten von Schulsprecherin Angela Stern
drängt sich wieder die Stimme von Itzhak Stern ins Bewusstsein – leise, und doch fordernd: "Mehr, mehr, wir brauchen noch mehr!"